Die Digitalisierung stellt den Handel vor immer neue Herausforderungen. Und die Einrichtung eines eigenen Online-Shops reicht noch lange nicht aus. Händler müssen innovativ und flexibel bleiben. Der Schlüssel dazu liegt oft im eigenen Unternehmen, nämlich bei den Ideen der Mitarbeiter. Im Interview spricht Sebastian Paas, Partner bei KPMG, über Digitalisierungsstrategien für Händler und die Innovationskraft in der eigenen Filiale.
Herr Paas, auf die Digitalisierung im Handel zu reagieren bedeutet heute schon viel mehr, als nur einen eigenen Online-Shop zu eröffnen. Wie sieht eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie aus?
Zunächst muss der Händler natürlich seine Prozesse sowie die Hard- und Softwareausrüstung anpassen, denn die Integration von digitalen Lösungen bedeutet immer zusätzliche Komplexität. Wenn der Händler danach seine Waren über digitale Kanäle verfügbar macht, ist es mit dem reinen Online-Verkauf noch lange nicht getan. Für uns gehören auch neue digitale Services dazu, wie zum Beispiel die Integration von Empfehlungen anderer Kunden oder, das ist ein Beispiel aus dem Großhandel, die automatische Warenkorberstellung. Dabei werden die aktuell am stärksten nachgefragten Produkte automatisch in den Warenkorb des Kunden übernommen. Genau das verstehen wir unter Digitalisierung: Die Verkürzung und Vereinfachung von Prozessen mithilfe digitaler Lösungen, um einen Mehrwert für den Kunden zu erreichen.
Und die Digitalisierung ist natürlich wichtig für den Weg hin zum Omnichannel Commerce. Daher ist es für einen Händler genauso wichtig, den Kunden in der Filiale ein Einkaufserlebnis zu bieten, das sie so beim Online-Shopping nicht bekommen. Ob eine Digitalisierungsstrategie einen Mehrwert bietet, hängt davon ab ob der Händler seinen Kunden sowohl dieses Einkaufserlebnis als auch die Vorteile der digitalen Angebote im Netz bieten kann.
Wie müssen Händler ihre Prozesse anpassen, um diesen Herausforderungen zu begegnen?
Eigentlich muss ein Händler alle seine Prozesse, auch die internen, auf den Prüfstand stellen, denn ein Omnichannel-Angebot betrifft fast alle Bereiche des Unternehmens. Einige Prozesse sind aber besonders von der Digitalisierung betroffen, zum Beispiel in der Logistik. Diese muss grundsätzlich überdacht werden, da gerade in diesem Bereich viele neue Services entstehen, zum Beispiel bei der Retourenabwicklung: Warum sollte der Paketbote, der dem Kunden seine aktuelle Bestellung bringt, nicht auch gleichzeitig die Retouren der letzten Sendung wieder mitnehmen? Damit das geleistet werden kann, müssen die Prozesse angepasst werden.
Die Digitalisierung betrifft auch in großem Maße den Bereich Personal. Um neue Services anbieten zu können, müssen neue Mitarbeiter mit den entsprechenden Fähigkeiten eingestellt werden. Oft versuchen etablierte Unternehmen auch, sich durch die Übernahme von Start-Ups das entsprechende Know-how anzueignen. In diesen jungen Firmen herrscht oft eine ganz andere Unternehmenskultur. Hier muss eine harmonische Zusammenarbeit zwischen den Unternehmensteilen sichergestellt werden. Die Personalabteilungen stehen dann vor der Herausforderung, ihre Einstellungsprozesse und -kriterien anzupassen und, vielfach zum ersten Mal, über die Zusammenarbeit mit externen Dienstleistern und Freelancern nachdenken.
Entscheidend ist auch die Nutzung der richtigen Technologien und Partner. Wie finden Händler die richtige Lösung?
Diese Frage wird uns von Kunden selbst sehr häufig gestellt, denn mit der Implementierung der neuen Technologien sind natürlich große Investments verbunden. In Zukunft wird es für Handelsunternehmen noch wichtiger sein, ein breites Spektrum an Partnern und Technologien bereit zu halten. Wir raten den Händlern, sich gerade in der frühen Phase der Digitalisierung nicht auf einen einzelnen Anbieter festzulegen. Sie sollten sich stattdessen ein Portfolio an Technologien und Partnern zulegen, mit denen über Serviceverträge kooperiert wird. So erreichen sie eine gewisse Planungssicherheit, ohne dabei ihre Flexibilität zu verlieren. Die technologische Entwicklung schreitet immer noch so schnell voran, dass Unternehmen auf neue Entwicklungen jederzeit flexibel reagieren können müssen – auch wenn das einen Wechsel des Anbieters bedeutet.
Es gibt durchaus einige Hersteller und Anbieter im Markt, die eine große Zahl von Technologien und Services aus einer Hand anbieten. Was halten Sie von diesen Modellen?
Es ist natürlich verlockend, sich darauf einzulassen. Vorher sollte sich ein Händler jedoch über die eigenen Anforderungen im Klaren sein und dann entscheiden, ob der Anbieter wirklich zu den eigenen Plänen passt. Bei jedem Unternehmen kann es natürlich durch das Geschäftsmodell oder die individuelle Wachstumsstrategie bedingt sein, dass Speziallösungen benötigt werden, die ein solcher Komplettanbieter eben nicht liefern kann. Für einige Händler kann es daher trotzdem von Vorteil sein, alle Lösungen von einem Hersteller zu beziehen, aber sicherlich nicht für alle.
Die Mitarbeiter sind ebenfalls ein wichtiger Faktor, um der Digitalisierung zu begegnen. In welcher Weise kommen neue Innovationen von den Mitarbeitern und wie kann man Mitarbeiter erfolgreich in den Digitalisierungsprozess einbeziehen?
Viele sinnvolle Innovationen kommen von den Mitarbeitern. Das sind meist Dinge, die die täglichen Arbeitsabläufe oder den Kundenservice verbessern, denn hier hat natürlich der Mitarbeiter im Store den besten Einblick. Für viele Handelsunternehmen bedeutet es allerdings einen erheblichen Wandel in der Unternehmenskultur, die Mitarbeiter überhaupt mit einzubeziehen. Danach steht man vor der Herausforderung, die Vorschläge der Mitarbeiter auch in tatsächliche Innovationen umzuwandeln. Ein guter Weg dafür ist es, Mitarbeiter selbst für die Umsetzung der Innovationen verantwortlich zu machen, die sie anstoßen, und zwar unabhängig von der Hierarchie im Unternehmen. Gerade festgefahrene Hierarchien sind oft das größte Hindernis für Innovationen.
Können Sie dafür Beispiele nennen?
Bei einem großen deutschen Discounter verfügen die Mitarbeiter in der Filiale inzwischen über Handys, um untereinander Kontakt zu halten. Vorher gab es innerhalb einer Filiale nur wenige Möglichkeiten für die Mitarbeiter, schnell und direkt miteinander zu kommunizieren. In diesem Fall wird das Handy zum Beispiel von der Kassiererin genutzt, um die Kollegen darauf aufmerksam zu machen, dass eine zweite Kasse geöffnet werden muss.
Ein anderes Beispiel ist ein Großhändler, der unter anderem Messen beliefert. Dieser rollt gerade mobile Kassen aus. Mit diesen sind die Mitarbeiter in der Lage, die verschiedenen Angaben zur Lieferung und Bezahlung direkt mobil festzuhalten, anstatt sie abends an einem zentralen Punkt ins System einzugeben. Auch das ist eine Alltagsinnovation, die zuerst von den Mitarbeitern angeregt wurde. Gerade hier treffen sich auch Innovation und Digitalisierung: In der Verbesserung des Services durch digitale Lösungen.
Ganz allgemein: Welche Rolle spielt die Digitalisierung für die Innovationskraft eines Unternehmens?
Digitalisierung und Innovation sind heute nicht mehr voneinander zu trennen. Die Digitalsierung ermöglicht es einem Unternehmen, sich permanent zu verändern. Trotzdem kann man sagen: Es gibt keine beständige Digitalisierungsstrategie, die auch in fünf Jahren noch unverändert praktikabel ist.
Dafür entwickeln sich sowohl die Technologien als auch die Anforderungen der Kunden heute viel zu schnell und kein Handelsunternehmen kann sich einen solchen Standpunkt leisten. Daher müssen die Händler innovativ bleiben. Und die Erfahrung zeigt: Die Innovation kommt viel öfter von innen, als man denkt.
Interview: Daniel Stöter, EuroCIS.com